Häuser machen Menschen

Bild von Gabriele Reiterer zu ihrem Essay über den  Wohnbau von Erich Boltenstern in Grinzing

Die Presse / Spectrum
29. Januar 2021
Erschienen unter dem Pseudonym Sophie Baur

Spätestens in Zeiten wie diesen sollte sich die Gesellschaft verstärkt auf die wahren Werte des Wohnens besinnen: auf soziale Verantwortung statt gestapelter Kubikmeter. Mein Leben in einem Haus von Erich Boltenstern: von den Qualitäten der Wiener Nachmoderne.

Ich wohne in einem Haus von Erich Boltenstern. Es steht mitten in Grinzing, umgeben von Garten und Blumen. Jeden Morgen begrüßen mich vor dem Ostfenster der Küche zwei Eichhörnchen. Sie jagen spielerisch den Stamm der Linde hinauf und hinunter. Die Anlage hat in Grinzing einen Ruf. Hier nennt man sie einfach die Siedlung - und das mit einem Beiklang. Von den standesgemäßen Wohnsitzen der Wiener Nobelgegend, den Jahrhundertwendevillen und zumeist charakterlosen Neubauten, hebt sie sich ab. Besonders repräsentativ ist sie nicht.

Die Wohnung in Grinzing ist mir praktisch zugefallen. An einem Sommermorgen las ich den Immobilienteil einer Zeitung. Auf die „Architektenwohnung“ in einem der Inserate reagierte ich mit Neugier. Ich wusste sofort, um welches Bauwerk es sich handelt. Neu war mir die Möglichkeit, dort eine Wohnung zu mieten. Die Vorstellung, ab nun vollkommen anders zu wohnen, gefiel mir. Anders wohnen bedeutete auf der Hälfte der vormaligen Fläche einer Dachwohnung und in einem Bau aus den späten 1950er-Jahren. Vom loggiaartigen Balkon aus kann ich jetzt die Bäume berühren.

Auf einem großen baumbepflanzten Grundstück stehen fünf dreigeschoßige Baukörper mit insgesamt 47 Wohnungen. Dazwischen ist jede Menge Raum: Bäume, Sträucher, Wiesen. Eben jener Raum, der in unserer gegenwärtigen, baurationalisierten Logik als verschwendet betrachtet werden würde. Dabei ist er das Herz des Wohnens. Es ist unser Raum zum Leben.

Schneemann vor dem Arbeitszimmer

Ich liebe es, den Kindern auf den Wiesen zuzusehen. Sie kennen sich alle untereinander, wie in einer großen Familie. Im Winter vergangenen Jahres haben sie einen Schneemann gebaut. Sie banden ihm einen Wollschal um den Hals und schmückten ihn mit einer Sonnenbrille. Er stand wochenlang vor meinem Arbeitszimmer, bis er unter den Strahlen der ersten Frühlingssonne schmolz.

In der warmen Jahreszeit spielen die Kinder Fußball oder hecken irgendwelche Streiche aus. Sie sind nicht besonders leise, aber es ist eine Freude, sie um mich zu haben. An den Wochenenden spielen die Buben mit den Vätern. In den Wochen der Ausgangsbeschränkung sah ich, wie die Kinder sich untereinander von den Fenstern und Balkonen zuriefen. Manche hielten selbst gezeichnete Plakate mit Botschaften und Figuren in die Höhe. Ich hörte deutsche, italienische, englische und serbokroatische Stimmen und viel Lachen.

Erich Boltenstern hat die Anlage gemeinsam mit Eugen Wachberger im Jahr 1957 für die Oesterreichische Nationalbank gebaut. Die Wohnungen waren für die Mitarbeiter gedacht. So ergibt sich auch die Bewohnerstruktur. Einen Teil der Wohnungen nutzen immer noch die Mitarbeiter der Bank. Die restlichen Wohnungen werden nach und nach renoviert und vermietet.

Auf meiner Stiege habe ich gleich nach dem Einzug ein Bewohnerehepaar der ersten Stunde kennengelernt. Sie erzählten mir begeistert von den ersten Jahren. Noch heute sind bei den älteren Bewohnern die Erinnerungen an die Bauherrschaft der Bank und die gelungene Architektur von Boltenstern und Wachberger aufrecht. Es sind freudig gestimmte Erinnerungen an Aufbruch und Identität, Zusammenhalt, Gemeinsamkeit und Lebensgefühl.

Erich Boltenstern wurde 1896 in Wien als Sohn eines Kaufmanns und einer Opernsängerin geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg begann er das Architekturstudium an der Technischen Hochschule in Wien. Interessant ist, dass Boltenstern eine Gesangsausbildung absolvierte. Er reiste viel und malte. 1925 heiratete er die ungarische Malerin Elisabeth Szupper.

Seine Reisen belegen unter anderem das große Interesse fiir die Architektur in Schweden. „Die Wohnform selbst stellt ein ausgesprochen wichtiges Milieuinstrument dar und damit eine gesellschaftliche Handhabe für die Veränderung der Lebensweisen und Gewohnheiten in eine sozial erwünschte Richtung“, erklärten der schwedische Okonom Gunnar Myrdal und der Architekt Uno Ahrén 1933. Wäre das nicht etwas, besonders in Zeiten wie diesen, habe ich mich in den vergangenen Monaten immer wieder gefragt.

Boltenstern war kunstsinnig, gebildet und kultiviert. Soziales Engagement war für ihn ein gelebter Wert. In den l930er-Jahren  lehrte er an der Wiener Akademie der bildenden Künste in der Meisterklasse von Clemens Holzmeister. 1938 wurde er von den Nationalsozialisten außer Dienst gestellt, nach dem Krieg lehrte er, nun als Professor, an der Technischen Universität Wien.

Das bekannteste Bauwerk Boltensterns ist wohl der Wiener Ringturm. Geläufig ist vielen auch der Wiederaufbau der Wiener Staatsoper durch Boltenstern. Und das leider abgerissene Bauwerk auf dem Kahlenberg. In den 1950er- und 1960er-Jahren plante er für die Oesterreichische Nationalbank mehrere Objekte. Eugen Wachberger übernahm dabei einen Teil der Entwurfsarbeit. Die Beziehung zwischen den beiden Architekten war kongenial. Die Wohnbauten von Boltenstern kennzeichnen klare, rasterartige Fassaden und spielerische Akzente. In Grinzing sind es mit verschiedenfarbigen Mosaikfliesen verkleidete Brüstungen der Balkone. Die Erdgeschoßzonen der Baukörper sind wunderbar aufgelöst und öffnen sich zum Außenraum. Sie wirken leicht und schwebend. „Eine Lösung für Grinzing“ titelte die lobende Besprechung der Anlage in der Zeitschrift „Der Bau“ von 1960.

Im Winter sah ich schon öfter eine ältere Dame auf ihrem Balkon. Sie stand reglos und blickte in die Ferne. Ihr Haar war vollkommen ergraut. Sie trug einen Nerz, den sie fröstelnd um sich zog. Die kalte Wintersonne warf ihre blassen Strahlen. Die Dame wirkte entrückt. Wie mag es wohl gewesen sein, als sie jung an der Seite ihres Mannes 1958 nach Grinzing zog? In eine moderne Wohnung, alles neu und schick. Aufbruch. Es ging aufwärts. Hinter ihr lagen die entbehrungsreichen Kriegsjahre und vor ihr das ganze Leben.

Interessant war Erich Boltensterns enge Beziehung zu Oskar Strnad. Boltenstern war sein Assistent an der Kunstgewerbeschule in Wien. Margarethe Schütte-Lihotzky erzählte in ihren Erinnerungen aus ihrer Zeit an der Kunstgewerbeschule vom charismatischen Lehrer, dem Architekten Strnad, der die Schüler und Schülerinnen Form und Gestaltung lehrte. Die außergewähnliche kunsthandwerkliche Schulung der Wiener Moderne wurzelte in der Monarchie. Die damaligen Staatsgewerbeschulen, an deren Spitze das Osterreichische Museum für Kunst und Industrie mit der Kunstgewerbeschule in Wien stand, boten erstklassige kunsthandwerkliche Ausbildungen. Gedacht als kulturprogrammatische Strategie, um Handel und Gewerbe der Monarchie zu stärken, forderten sie die hochstehende Gestaltungskultur der Wiener Moderne.

Der Wiener Moderne gebührte innerhalb der Bewegung des Neuen Bauens ein besonderer Platz. Sie brach die zwanghaft gesamtkunstwerklichen Konzepte des Fin de Siécle. Gleichzeitig war sie weit entfernt vom kalt technoiden Gedanken einer ideologischen Moderne. Josef Frank, Oskar Strnad oder auch Adolf Loos, um nur einige zu nennen, besaßen Werte humanistischer Bildung und ein hohes kulturelles Verständnis. Ihre Bauten verströmen Eloquenz und Individualität.

Die Merkmale der Wiener Architekturmoderne waren herausragende Konzeptionen, und sie verkörpern eine Meisterschaft gestalteten Raumes. Um plakativ zeitgeistige Strömungen scherten sich ihre Protagonisten wenig. Oswald Haerdtl, Erich Boltenstern und andere führten das hochstehende Erbe in eine neue Zeit. Vom Kunsthandwerk spannten sie einen Bogen zu modernem Design. Die erstklassige gestalterische Tradition setzte sich so als ein essenzielles Erbe fort. Noch heute ist dieses Vermächtnis lebendig.

Erich Boltenstern verkörperte all das als Mensch und in seinem architektonischen Schaffen. Den „letzten Ringstraßenarchitekten“ haben ihn Judith Eiblmayr und Iris Meder in dem von ihnen herausgegebenen Band „Moderat modern - Erich Boltenstern und die Baukultur nach 1945“ genannt. Diese Zuschreibung ist ebenso richtig wie poetisch. Sie umschreibt jene speziell österreichische, großbürgerliche, hochkultivierte Grandesse, für die der Name Erich Boltenstern stand.

Zurück in die Gegenwart und nach Grinzing. In meinem Haus habe ich einen besonderen Geist des Wohnens gefunden. Ich nenne ihn Atmosphäre. Perfekter Hintergrund für den Vordergrund des Lebens. Jedes Eck in meiner Wohnung ist wohlgestimmt. Der Grundriss ist ausgewogen. Die Lichtverhältnisse sind bedacht. Die Wohnung wurde erstklassig renoviert. Eine Wand wurde entfernt, Küche und Wohnzimmer geöffnet, einer großzügigen Raumflut gewidmet. Bis in die Details wie Türklinken und Armaturen ist alles wohldurchdacht. Die Architektur zusammen mit bedachter Innenrenovierung und die Natur rundum sind in der Anlage die Grundlage gedeihlichen und resonanten Lebens. Die Qualität ist täglich spürbar. Alle in der Siedlung sind freundlich, gut gelaunt, gesprächig. Neulich traf ich die Dame von Stiege eins. Der kleine Enkel war zu Besuch. Mit ihm sein Hund, ein zehn Wochen alter French Bulldog. „Er heißt Sparky“, durfte ich erfahren. Seitdem weiß ich auch, dass der rote Kater, der abends von der Brüstung neugierig Ausschau halt, Sushi heißt. Und Sparky werde ich demnächst vielleicht einmal sitten.

Wenig Wertschätzung für das Erbe

Die Wohnanlage in Grinzing ist ein Juwel. Vor einigen Jahren hat sie den Besitzer gewechselt. Manchmal wundere ich mich, dass die aktuellen Eigentümer wenig Wertschätzung für das Erbe, das sie angetreten haben, beweisen. Es ware nicht zu ihrem Nachteil. Ein Fassadenanstrich, die notwendige Erneuerung der technischen Anlagen, etwas mehr Aufwand in den Stiegenhäusern: Erich Boltensterns und Eugen Wachbergers Architektur könnte eine Marke sein. Corporate Architecture. Wiener Nachmoderne vom Feinsten. Binnen kurzer Zeit würde man den jetzigen Besitzern die Wohnungen aus den Händen reißen. Alles Fifties, retro, schick. Und noch viel mehr. Denn Wachberger und Boltenstern bauten damals keine rationalisierten Meter. Ihre Werke atmen den Geist des Wohnens. Sie sind weit entfernt von Betongold oder manchen Hühnerställen des Smart Living.

Häuser machen Menschen. Und spätestens in Zeiten wie diesen sollte sich die Gesellschaft verstärkt auf die wahren Werte des Wohnens besinnen: auf soziale Verantwortung statt gestapelter Kubikmeter. Wir haben Architektinnen und Architekten, die begabt und engagiert entwerfen und bauen. Ich fordere an dieser Stelle (noch) mehr Wertschätzung ihrer Bedeutung für unser resonantes Leben. Ich selbst will kalt-rechnerischen Märkten lieber heute als morgen die lange Nase zeigen. In der Zwischenzeit genieße ich - trotz Krise - mein Wohnleben und hoffe, dass sich dieser Sektor künftig zum deutlich Positiven verändert.

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